Titel: | Ueber Maulbeerblätter aus Turkestan; von Dr. E. Reichenbach. |
Fundstelle: | Band 200, Jahrgang 1871, Nr. XC., S. 326 |
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XC.
Ueber Maulbeerblätter aus
Turkestan; von Dr. E. Reichenbach.
Aus den Annalen der Chemie
und Pharmacie, 1871, Bd. CLVIII S.
92.
Reichenbach, über Maulbeerblätter aus
Turkestan.
Zur Vervollständigung meiner „Untersuchungen über die
Zusammensetzung der Maulbeerblätter in besonderer Beziehung
auf die Seidenraupenkrankheit“
Annalen der Chemie und Pharmacie, Bd. CXLIII, S. 83; wie
auch „Ueber Seidenraupenzucht und Cultur des
Maulbeerbaumes in China,“ München 1867,
Verlag bei Cotta. übergab mir Herr Geheimrath v. Liebig Maulbeerblätter aus Turkestan, die von Herrn
Adamoli, einem Italiener, mit
verbürgter Gewissenhaftigkeit an Ort und Stelle gesammelt
wurden. Herr Adamoli legte den
Blättern eine in französischer Sprache verfaßte Beschreibung der
verschiedenen in Turkestan vorkommenden Maulbeerbaumsorten bei,
die ich wiederzugeben mir erlaube.
„Es kommen in Turkestan mehrere Arten von
Maulbeerbäumen vor, die sich ziemlich schwer in Classen
eintheilen lassen, theils wegen der zahlreichen
Zwischenstufen, die zwischen einer Abart und der anderen
auftreten, theils wegen des Gewirres der Namen, welche die
Eingeborenen den verschiedenen Sorten beilegen. Nichts desto
weniger möchte ich hier die möglichst genaue Eintheilung
anführen, die ich zu treffen im Stande war.
„Der wilde Maulbeerbaum, der durch Samen fortgepflanzt
wird und sehr verbreitet ist, heißt Kassak. Seine Früchte,
die entweder weiß – Kounak
– oder roth – Karatoute – sind, haben große Kerne und
wenig Fleisch. Man säet diese Kerne und erhält daraus
Setzlinge, die man dann weiter aufzieht, entweder um Blätter
davon zu ernten, oder um sie zu pfropfen. Die männlichen
Setzlinge des Kassak, welche keine Früchte tragen und Irkak
genannt werden, dienen hauptsächlich zur Ernährung der
Seidenwürmer. Der Irkak, welcher
in großer Menge auf Feldern gepflanzt wird und diese
auch in regelmäßigen Reihen begrenzt, erreicht keinen großen
Umfang. Man schneidet gewöhnlich seinen Stamm in Manneshöhe
ab und läßt vom Gipfel bis zu den Wurzeln Seitenzweige
hervorschießen, die man jährlich einmal abnimmt. Solche
Zweige wachsen in Masse aus großen Knoten, die sich
unregelmäßig über die Oberfläche des Stammes verbreiten.
„Gewöhnlich pfropft man den jungen Kassak in
Manneshöhe und läßt die Krone aus dem Pfropfreis
emporwachsen; seltener läßt man beim Kassak die Zweige an
der Krone wachsen, um sie dann einzeln zu pfropfen.
„Es gibt folgende verschiedene Arten von
Pfropfreisern: der Marvaritak mit
den feinsten Blättern und weißen, kleinen, genießbaren
Früchten wird gewöhnlich in Gärten gepflanzt und dient eben
so gut den Würmern mit seinen Blättern, wie den Menschen mit
seinen Früchten. Ich glaube in ihn: die größte Aehnlichkeit
mit dem auf unseren Feldern sehr verbreiteten Maulbeerbaum
mit weißen Früchten zu finden. Ueber den Ursprung des
Marvaritak weiß ich Nichts und führe nur noch an, daß er in
Koshan den Namen Bidimah
trägt.
„Der Khoras oder Khorasmine, der von der Umgegend
Khiva's hierher gebracht
wird, unterscheidet sich so wenig vom Marvaritak, daß er mit
ihm sehr oft verwechselt wird. Seine Früchte sind klein und
weiß, seine Blätter sehr gesucht für die Seidenwürmer.
„Der Balkhi stammt aus Balk
und unterscheidet sich sehr deutlich von den übrigen Arten.
Als Pfropfreis ist er ausschließlich seiner Frucht wegen
gesucht, die dick und fleischig ist, weiße, beinahe
unmerkbare Kerne und einen feinen Geschmack hat. Sein Blatt
ist ein wenig lederartig. Der Balkhi entwickelt sich sehr
stark und nimmt riesenhafte Proportionen an. Man sieht ihn
längs der Wege, an den Straßen und auf den Plätzen der
Städte und Dörfer; er bildet größtentheils die Lustwäldchen,
in deren Schatten die Mescheds stehen, kurz er ist einer der
verbreitetsten Zierbäume. Seine sehr reichlichen Früchte
werden frisch oder getrocknet gegessen und unter dem Namen
Toute-maiz verkauft.
Man verwandelt sie auch in Mehl, das man in Wasser zu einem
erfrischenden Getränk auflöst oder mit Weizenmehl gemischt
zur Anfertigung eines Kuchens verwendet, der Toute-calvà genannt
wird. Der Balkhi gedeiht auch vortrefflich im Gebirge, wo er
stets der Blätterernte wegen gepflegt wird.
„Der Schah-toute,
der aus Persien stammt, verästet sich kugelförmig, trägt
sehr dichte Blätter und dicke, tiefrothe Früchte, aus
welchen ebenfalls erfrischende Getränke bereitet werden. Der
Schah-toute ist eine Maulbeerbaumsorte, die wir auch in Europa besitzen und
deren wissenschaftlicher Name, wenn ich nicht irre, Morus nigra, Varietas
constantinopolitana lautet.
„Der Markt aller Arten von Maulbeerstämmen findet
gewöhnlich Ende Winter, d.h. Ende Januar bis Anfang März
statt. Man findet dann Bäume von ansehnlicher Größe zu den
verhältnißmäßig niederen Preisen von 30 bis 40 Kopeken.
„Hier wie in Europa liebt der Maulbeerbaum weder einen
zu feuchten noch zu trockenen Boden. Man findet ihn nicht in
Reisfeldern. Ergedeiht am besten an Plätzen, die in
Ermangelung von Thau und atmosphärischer Feuchtigkeit durch
die wohlthätigen Bewässerungen aus Canälen befeuchtet
werden.“
So weit der Bericht des Herrn Adamoli.
– Nur von fünf der eben beschriebenen Maulbeerarten bekam
ich sorgfältigst getrocknete und wohlerhaltene Blätter, aber
leider in einer so geringen Menge, daß ich von Bestimmungen
ihrer Aschenmengen und von Aschenanalysen ganz absehen mußte und
nur Stickstoffbestimmungen vornehmen konnte. Diese ergaben, daß
die fünf Sorten im Durchschnitt 3,73 Proc. Stickstoff
enthielten, also noch mehr, als die an oben erwähnter Stelle
beschriebenen japanesischen und chinesischen Blätter, deren
Stickstoffgehalt nur 3,29 Proc. und 3,13 Proc. betrug.
Das Resultat der einzelnen Bestimmungen ist folgendes:
Die
Blätter
des
Kassak enthalten
4,00
Proc.
Stickstoff
„
„
„
Marvaritak
„
3,44
„
„
„
„
„
Khorasmine
„
4,05
„
„
„
„
„
Balkhi
„
3,38
„
„
„
„
„
Schah-toute
„
3,81
„
„
Berechnet man wieder, wie viel Stickstoff oder Proteinkörper die
Raupen in 1000 Pfund dieser Blätter zu fressen bekommen, so
erhält man folgende Zahlen:
In 1000 Pfund trockener Blätter des
Kassak 40 Pfund Stickstoff oder 250 Pfund
Proteïnkörper.
In 1000 Pfund trockener Blätter des
Marvaritak 34 1/2 Pfund Stickstoff oder 215 Pfund
Proteïnkörper.
In 1000 Pfund trockener Blätter des
Khorasmine 40 1/2 Pfund Stickstoff oder 253 Pfund
Proteinkörper.
In 1000 Pfund trockener Blätter des
Balkhi 33 1/2 Pfund Stickstoff oder 211 Pfund
Proteïnkörper.
In 1000 Pfund trockener Blätter des
Schah-toute 38 Pfund Stickstoff oder 238 Pfund
Proteïnkörper.
Also wie die chinesischen und japanesischen, so bieten auch diese
Blätter den Raupen eine nicht nur zu ihrer Ernährung, sondern
auch zur Seidenproduction vollkommen hinreichende Menge
Stickstoff dar, was durch die Thatsache bewiesen ist, daß in
Turkestan noch niemals eine Krankheit unter den Würmern
verheerend aufgetreten ist und neben der chinesischen und
japanesischen die turkestanische Seide eine der schönsten
ist.
München, Januar 1871.