Titel: | Ueber Seidenraupenkrankheit, nachträgliche Bemerkungen zur vorstehenden Abhandlung; von Julius v. Liebig. |
Fundstelle: | Band 200, Jahrgang 1871, Nr. XCI., S. 330 |
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XCI.
Ueber Seidenraupenkrankheit,
nachträgliche Bemerkungen zur vorstehenden Abhandlung; von Julius v.
Liebig.
Aus den Annalen der Chemie
und Pharmacie, April 1871, S. 96.
Liebig, über Seidenraupenkrankheit.
Ich empfieng die Maulbeerblätter, welche zu den vorstehenden
Analysen dienten, durch die Güte des Herrn Geh.-Rathes v.
Karell in St. Petersburg von Hrn.
v. Struve (Sohn des berühmten
Astronomen), dessen Bekanntschaft zu machen ich im Spätsommer
1868 in Kissingen das Vergnügen hatte, wohin er die Nachricht
der russischen Siege in Turkestan dem hohen Kaiserpaare
überbracht hatte. In einer Unterhaltung über die Producte dieser
wenig gekannten Länder erwähnte Hr. v. Struve der Seidencultur, welche dort verbreitet sey,
und er ging auf meinen Wunsch, mir einige Sorten Maulbeerblätter
zum Behufe einer chemischen Untersuchung zu verschaffen, auf das
Zuvorkommendste ein.
Leider war die Menge der Blätter, welche vortrefflich eingelegt,
offenbar mehr einem Herbarium als einem chemischen Laboratorium
von Hrn. Adamoli zugedacht waren,
sehr gering, so daß die relativen Verhältnisse der
Aschenbestandtheile nicht ermittelt werden konnten; aber die
Hauptsache, die Bestimmung des Stickstoffgehaltes, wurde
erreicht. Es zeigte sich, daß die Maulbeerblätter in Turkestan
noch reicher an stickstoffhaltigen Bestandtheilen sind, als die
chinesischen und japanesischen Blätter. (Siehe Dr. Reichenbach in diesen Annalen Bd. CXLIII S. 91.)
Drückt man den Stickstoff dieser Blätter in Proteinsubstanzen aus
(was sicherlich nicht richtig, aber zur Vergleichung wohl
zulässig ist), so würden diese den vierten Theil vom
ganzen Gewicht der trockenen Blätter ausmachen.Herr v. Struve schrieb an
Herrn v. Karell:
„Im vergangenen Jahre kam ich nach
Taschkend Ende Juli, als es schon zu spät war, die
Blätter zu besorgen, da die Würmerperiode schon
verflossen war.“ Man kann hiernach wohl
sicher seyn, daß die im Jahre 1870 gesammelten Blätter
in der Fütterungszeit der Würmer gesammelt worden
sind.
Ueber die Bedeutung dieses Stickstoffgehaltes des Futters der
Seidenraupen für die Seidenproduction und die Gesundheit des
Thieres habe ich mich in der Zeitschrift des
landwirtschaftlichen Vereines in BayernIm polytechn. Journal, 1867, Bd. CLXXXIV S. 68. und in der Vorrede zu Dr.
Reichenbach's Werk:
„über Seidenraupenzucht und Cultur des
Maulbeerbaumes in China“ (München 1867, J. G. Cotta) eingehend ausgesprochen; meine
Ansichten darüber sind indessen vielseitig mißverstanden worden.
Man hat sie so ausgelegt, als ob ich den Grund der
Seidenraupenkrankheit in einer Krankheit des Maulbeerbaumes
gesucht hätte; aber es ist mir gar nicht in den Sinn gekommen,
die Maulbeerbäume in den Gegenden, wo die Krankheit herrscht,
für krank zu halten, so wenig ich einen Apfelbaum auf einem
mageren Boden für krank halte, weil er keine Früchte trägt.
Meine Meinung ist, daß der Maulbeerbaum, um den Stoff in
genügender Menge zu erzeugen, aus welchem die Raupe, einer
kleinen Maschine gleich, die Seide spinnt, genau so behandelt
werden müsse, wie der Apfelbaum, wenn er reichlich Früchte
tragen soll.
Die Erfahrungen in der Landwirtschaft lehren, daß ein
ursprünglich fruchtbarer Boden seine Fruchtbarkeit nach einer
Reihe von Jahren verliert, wenn man die darauf gebauten
Feldfrüchte hinwegnimmt, ohne die Bedingungen ihres Wachsthums
durch Dünger wieder zu ersetzen. Das Streurechen in Wäldern, das
ist das Hinwegnehmen der im Herbste abfallenden Blätter, ist von
den Forstwirthen als eine Ursache der Verminderung des
Wachsthums der Holzpflanzen längst erkannt.
Es ist klar, daß wenn man einem Maulbeerbaume jährlich einen
Theil seiner Blätter nimmt, der Boden damit einen Theil der
Bedingungen zur Wiedererzeugung der Blätter verliert; so lange
der Baum im Wachsen ist, hat der Verlust, den der Boden
erleidet, keinen merklichen Einfluß auf den Baum oder die
Beschaffenheit seiner Blätter, weil seine Wurzeln in Folge ihrer
Verlängerung und Ausbreitung mit neuen Bodenschichten in
Berührung kommen, die von den zur Ernährung des Baumes
erforderlichen Bestandtheilen weniger oder noch nichts verloren
haben.
Der Umfang des Bodens, aus welchem die Wurzeln ihre Nahrung empfangen, ist aber begrenzt, und es muß, wenn diese Grenze
erreicht ist, in der Zufuhr an Nahrung eine Verminderung
eintreten; es dauert lange, ehe dieß an der äußeren
Beschaffenheit des Baumes bemerklich ist, und wenn, wie die
Gärtner glauben, durch regelmäßiges Beschneiden des Baumes der
Wurzeltrieb verstärkt und die Menge der durch die Wurzeln
zugeführten Nahrung für die stehengebliebenen Zweige vermehrt
wird, so bleibt der im Ganzen bestehende Mangel an Nahrung oder
ihre Abnahme im Boden auf noch länger hin dem Beobachter
verborgen. Die verminderte Zufuhr von Nahrung hat zur Folge, daß
die Erzeugung derjenigen Bestandtheile, die zur Hervorbringung
der Samen und Früchte dienen, abnimmt; diese Bestandtheile sind
es aber, welche der Seidenwurm vorzugsweise zu seiner
Entwickelung bedarf. Hieraus erklärt sich, wie nach und nach der
Maulbeerbaum, ohne eigentlich krank zu seyn, Blätter
hervorbringt, die sich zur vollen Ernährung der Seidenraupe
nicht mehr eignen, und dieß kann nicht ohne Einfluß auf die
Gesundheit des Thieres und seiner Nachkommen seyn.
Durch wechselnde Witterungsverhältnisse in den verschiedenen
Jahreszeiten, Wärme und Feuchtigkeit wird der Gehalt der Blätter
an Nährstoffen verändert; sind diese Verhältnisse im Sommer und
Herbst ungünstig, so wird weniger Reservenahrung im Baume für
seinen Bedarf im kommenden Frühling angehäuft und diese bei
manchen Arten vorweg für die Entwicklung der Blüthen verbraucht;
in der Vegetation günstigen Jahren können dagegen die Bäume ein
für die Würmer vollkommen geeignetes Futter liefern. Dieser
Wechsel in der Seidenzucht von ungünstigen mit günstigen Jahren
erweckt in den günstigen natürlich die Hoffnung, daß das Uebel
vorübergehend wäre, und man versäumt das Rechte zu thun, um der
Wiederkehr der schädlichen Einflüsse dauernd zu begegnen.
In den Gegenden, wo die Seidenraupenkrankheit herrscht, habe ich
als eine der Ursachen der Krankheit
die mangelhafte Beschaffenheit des Futters bezeichnet.
In China, Japan und Turkestan ist die Seidenraupenkrankheit
unbekannt oder so gut wie unbekannt, und aus den beiden ersteren
Ländern, wo der Seidenbau um einige hundert Jahre älter ist als
in Europa, weiß man, daß dort der Baum oder Strauch, der das
Futter für die Raupen liefert, genau so behandelt wird, wie in
Weingegenden der Weinstock; er wird geschnitten und der Boden
sorgfältig bearbeitet und gedüngt.
In Oberitalien und Frankreich wendet man dem Maulbeerbaume kaum
mehr Pflege zu, als einem Baume im Walde.
In dem Verfahren des ostasiatischen und europäischen
Seidenzüchters bemerken wir demnach einen wesentlichen
Unterschied. Der Erstere verwendet die größte Sorgfalt auf die
Cultur des Baumes, in dessen Organismus das Material erzeugt
wird, aus dem sich der Körper des Thieres aufbaut, und welches
den Stoff für die Seide liefert; er weiß von der
Seidenraupenkrankheit Nichts.
Der Andere trägt nicht die geringste Sorge für die Erhaltung der
naturgesetzlichen Bedingungen seiner Seidenernte und meint, daß
von dem Samen oder der Raupe Alles abhänge, und er kämpft ohne
Unterlaß mit einem verborgenen Feinde, der seine Industrie zu
vernichten droht.
Man sollte denken, daß der europäische Seidenzüchter ohne irgend
eine vorgefaßte Theorie das Beispiel des ostasiatischen
Seidenzüchters befolgen müsse, um über den Grund des Uebels zur
Klarheit zu kommen, daß er zunächst die Pflege des
Maulbeerbaumes in seine eigene Hand nehmen und die Erzielung des
besten Futters für seine Seidenraupen zu seiner Hauptaufgabe
machen müsse. Mit der Düngung alter Bäume wird man kaum etwas
Ersprießliches erreichen; man muß mit jungen Pflanzungen
beginnen.
Es spricht eine Menge von Gründen dafür, daß die Pilzkörperchen
die man in der Regel als die alleinige Ursache der Krankheit der
Raupen ansieht, in mangelhaft ernährten Thieren den eigentlichen
Boden für ihre Entwickelung und Verbreitung finden.
Es ist schon Recht, daß man die Eier mikroskopisch untersucht und
diejenigen von der Zucht ausschließt, unter denen sich solche
befinden welche die Anzeichen der Krankheit bereits an sich
tragen; allein der Grund des Uebels wird damit nicht entdeckt,
auf dessen Kenntniß zuletzt Alles ankommt.
Wenn der Seidenbau in Deutschland eben so erheblich wie in
Frankreich oder Italien wäre, so würden unsere
agriculturchemischen Versuchsstationen längst sich dieses
Gegenstandes bemächtigt haben; wir würden zuverlässige
Witterungsbeobachtungen und jedes Jahr ganze Reihen von Analysen
der zur Fütterung dienenden Blätter in den verschiedenen Stadien
ihrer Entwickelung und eine Menge von Versuchen über den Einfluß
der Phosphate, der Kalisalze, des Kalkes u.s.w. auf die Qualität
derselben haben, und um einen guten Schritt der Erkenntniß der
Ursache der Seidenraupenkrankheit näher seyn. Von Allem dem ist
in Frankreich und Italien nicht das Allergeringste geschehen;
man ist über das Mikroskop nicht hinausgekommen.
Wenn man im Auge behält, daß der Seidenwurm das Material zur
Bildung der Seide von den Maulbeerblättern empfangen muß, so versteht man leicht den Unterschied und Einfluß von
stickstoffreichem und stickstoffarmem Futter auf die körperliche
Beschaffenheit des Thieres.
Wenn eine gegebene Menge Blätter, in China, Japan und Turkestan,
z.B. 1000 Grm., worin 200 bis 250 Grm. stickstoffhaltige
Bestandtheile, für die volle Entwickelung einer gewissen Anzahl,
sagen wir 100 Würmer nothwendig sind, so wird eine gleiche
Anzahl von Raupen in Alais oder Tortona in 1000 Grm. der
dortigen Blätter ein ganzes Drittel stickhoffhaltiger
Bestandtheile weniger empfangen, und es ist ganz unmöglich zu
glauben, daß unter diesen ungleichen Fütterungsverhältnissen die
Entwickelung der angenommenen 100 Thiere einen gleichen Verlauf
haben könnte; in der Größe und Stärke der Thiere und in der
Menge ihres Gespinnstes muß sich zu Gunsten der besser ernährten
Thiere ein Unterschied zeigen.
Samen von gesunden und kräftigen Eltern werden gesunde Würmer
liefern, welche auch mit dem stickstoffarmen Futter ernährt
Seide erzeugen, obwohl sie nicht zu der gleichen Entwickelung
wie besser ernährte Thiere kommen. Man darf sich nur denken, daß
wenn in ihrem Körper ein zum Einspinnen ungenügender Vorrath des
Seide liefernden Materiales angehäuft ist, dann andere ihrer
Körperbestandtheile dazu verwendet werden müssen, um den
vorhandenen Mangel zu ergänzen. Ein solcher Eingriff in den
Organismus wird natürlich den schädlichsten Einfluß auf die
Fortpflanzung und ihre Producte äußern müssen. Die Eier solcher
Thiere können nicht dieselbe Beschaffenheit haben, wie die von
ausreichend ernährten kräftigen Thieren. Die Erfahrung lehrt,
daß die von chinesischen und japanesischen Eiern unmittelbar
gezüchteten Raupen, mit mangelhaftem Futter ernährt, Seide
liefern, die zweite Generation aber aus den importirten Eiern
verfällt beim nämlichen Futter, wie man sagt, der Krankheit, in
der Regel vor dem Einspinnen und häufig noch früher. Wenn nun
äußere Ursachen die Krankheit erzeugten, so sollte man meinen,
diese müßten, da ja alle übrigen Verhältnisse identisch sind,
auf die aus importirten Eiern gezüchteten Thiere in der gleichen
Weise einwirken wie auf die aus europäischen Eiern erwachsenen;
in der Regel aber werden nur die letzteren krank.
Das Schlimme ist, daß in den europäischen Ländern, in welchen der
Seidenbau Gegenstand der Industrie ist, die Cultur des
Maulbeerbaumes, welcher die Nahrung, und die Zucht der
Seidenraupe, welche die Seide liefert, nicht wie in China und
Japan sich in ein und Derselben Hand befinden.
Der europäische Seidenraupenzüchter kümmert sich nicht oder nur
selten um die Qualität der Blätter, er sucht sie so wohlfeil wie
möglich zu bekommen, und der Besitzer der
Bäume hat nicht das geringste Interesse, die Qualität der
Blätter durch Düngung seiner Bäume zu verbessern, da die
Anwendung der Mittel, welche nothwendig wären, um die
seidebildenden Stoffe in den Blättern zu vermehren, ihm
beträchtliche Ausgaben machen würde, ohne Aussicht auf Ersatz.
Zur Erhaltung seiner Industrie wird es der Seidenzüchter doch
zuletzt machen müssen, wie der Rübenzuckerfabrikant, der früher
seine Rüben von den Bauern kaufte, und der sie jetzt selbst
baut, um seines Zuckerertrages sicher zu seyn.
In neuerer Zeit scheint übrigens auch der Maulbeerbaum einer
Krankheit zu verfallen, welche an manchen Orten der Seidenzucht
ein Ende zu machen droht; ich empfieng von dieser Krankheit
zuerst Nachricht von Hrn. Baron Gresseri (Castel Pietro bei Trient), der mir hierüber
Folgendes schreibt: „Seit einigen Jahren hat sich in
unserer Landschaft eine Krankheit der Maulbeerbäume
entwickelt, die immer mehr um sich greift; sobald der Baum
davon ergriffen wird, stirbt er nicht allein ab, sondern er
steckt auch die benachbarten Bäume an, und zwar so, daß in
einem Felde die noch vorhandenen Bäume absterben, während
überdieß das Feld für dieselbe Species unfruchtbar wird. Die
Krankheit befällt zuerst die Wurzeln, auf denen sich mit dem
Mikroskope ein sehr feiner Pilz wahrnehmen läßt; sie begann
in den südlichen Theilen des Landes und pflanzt sich jetzt
nach Norden fort. Das Befallenwerden der Bäume von der
Krankheit scheint unabhängig zu seyn von Feuchtigkeit oder
Trockenheit des Standortes.“
Wenn zwischen der Beschaffenheit der Maulbeerblätter, der
Raupenkrankheit und der Krankheit der Maulbeerbäume eine
Beziehung wirklich besteht, so scheint diese so ziemlich
naturgesetzlich zu seyn; erst stirbt der Wurm, der die Blätter
frißt, und dann der Baum, der die Blätter geliefert hat.