Titel: | Neue amtliche Bestimmungen für Eisenbetonbauten. |
Autor: | P. Weiske |
Fundstelle: | Band 322, Jahrgang 1907, S. 482 |
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Neue amtliche Bestimmungen für
Eisenbetonbauten.
Neue amtliche Bestimmungen für Eisenbetonbauten.
Der preußische Minister der öffentlichen Arbeiten hat am 24. Mai 1907
Bestimmungen für die Ausführung von Konstruktionen aus Eisenbeton bei Hochbauten
erlassen, welche die alten Bestimmungen vom 16. April 1904 sofort außer Kraft
setzen.
In den neuen Vorschriften sind die Erfahrungen der letzten Jahre verwertet.
Insbesondere sind viele Bestimmungen strenger gefaßt, um den Leichtsinn unerfahrener
Konstrukteure und Unternehmer möglichst zu fesseln. Im Interesse einer soliden
Entwicklung sind daher die neuen Bestimmungen zu begrüßen, wenngleich der
Eisenbetonbau etwas verteuert wird und im einzelnen manche Vorschriften etwas zu
streng und für den Unternehmer lästig erscheinen.
Die wichtigsten Veränderungen sind in folgendem zusammengestellt.
I. Allgemeine
Bestimmungen.
1. Die Betonmasse darf bei warmer und trockner Witterung nicht länger als eine
Stunde, bei kühler und nasser Witterung nicht länger als zwei Stunden unverarbeitet
liegen bleiben.
2. Die Eiseneinlagen sind vor der Verwendung sorgfältig von Schmutz, Fett, losem Rost
und dergl. zu reinigen. Sie sind in die richtige Lage zu bringen und mit besonders
feiner Betonmasse dicht zu umkleiden. Unterhalb der Eiseneinlagen muß bei Platten
mindestens 1 cm, bei Balken wegen der größeren Stärke der Rundeisen mindestens 2 cm
vorhanden sein.
3. Die seitliche Schalung der Balken, die Einschalung der Stützen, sowie der
Deckenplatten darf nicht vor acht Tagen, die Unterstützung der Balken nicht vor drei
Wochen beseitigt werden. Bei größeren Stützweiten und Querschnittsabmessungen sind
die Fristen unter Umständen bis zu sechs Wochen zu verlängern.
4. Der Baupolizeibehörde ist mindestens drei Tage vor Beginn der Arbeiten
anzuzeigen:
a) der Beginn der Betonarbeiten behufs Kontrolle der fertigen
Einschalungen und Rüstungen,
b) die Fortsetzung der Herstellung von Wänden und Pfeilern in
mehrgeschossigen Gebäuden im nächst höheren Geschoß, da die Bauteile im unteren
Geschoß genügend erhärtet sein müssen.
c) die beabsichtigte Entfernung der Schalungen und
Rüstungen.
Die Abnahme von Probebelastungen, deren Anordnung allein dem Ermessen der
Baupolizeibehörde vorbehalten ist, darf erst 45 Tage nach dem Beginn der Erhärtung
vorgenommen werden. Hierbei soll die Belastung für 1 qm nicht mehr als
q = 0,5 g
+ 1,5 p
betragen, so daß die ganze Belastung das eineinhalbfache
der rechnungsmäßigen Belastung ist. Bei höherer Nutzlast als 1000 kg/qm können
Ermäßigungen bis zur einfachen Nutzlast eintreten. Soll nur ein Streifen des
Deckenfeldes belastet werden, so ist die Auflast in der Deckenmitte gleichmäßig auf
einen Streifen zu verteilen, dessen Länge gleich der Spannweite und dessen Breite
ein Drittel der Spannweite, mindestens aber 1 m ist. Die Auflast ist hierbei nicht
größer als
q = g + 2p
f. d. qm zu nehmen, so daß die ganze Belastung das doppelte
der rechnungsmäßigen Belastung beträgt.
In diesen Formeln ist p die Nutzlast und g das Eigengewicht.
Die Festlegung des Alters der zur Verwendung gelangenden Betonmasse und des
Mindestabstandes der Eiseneinlagen vom Betonrande ist erwünscht als Abwehr der
Pfuscherei. Ebenso sind die Bestimmungen über die Einschalungsdauer, die
Anzeigepflicht und die Probebelastungen zu begrüßen.
Die Anzeigepflicht ist für bewährte Eisenbetongeschäfte nur eine Formsache, da die
Baupolizeibehörde berechtigt aber nicht verpflichtet ist, Augenscheinstermine
abzuhalten. Auch im Falle des Nichterscheinens der Beamten können die Arbeiten
begonnen werden.
Die Größe der Probelast ist gegen früher erheblich vermindert worden, um eine
Ueberanstrengung des auch nach 45 Tagen noch nicht vollständig leistungsfähigen
Eisenbetons zu vermeiden. Auch die Bestimmung, daß ein Streifen aus der Decke zur
Vornahme der Probebelastung herausgelöst werden darf, ist weggefallen.
II. Leitsätze für die statische
Berechnung:
1. Bei über mehrere Stützen weglaufende Platten oder Balken kann das Biegungsmoment
in der Mitte zu ⅘ des Wertes angenommen werden, der bei einer auf zwei Stützen
aufliegenden Platte vorhanden sein würde; über den Stützen ist das negative Moment
so groß wie das Feldmoment bei freier Auflagerung anzunehmen.
Diese Annahme gilt, wenn eine genaue Berechnung der Feld- und Stützmomente nicht
angestellt wird. Hierbei darf die rechnerische Annahme des Zusammenhanges über nicht
mehr als drei Felder ausgedehnt werden.
Bei Nutzlasten von mehr als 1000 kg ist die Berechnung auch für die ungünstigste
Belastung anzustellen.
Bei Anordnung der Eiseneinlagen ist unter allen Umständen die Möglichkeit des
Auftretens negativer Momente sorgfältig zu berücksichtigen.
In den bisherigen Bestimmungen fehlten die Vorschriften über die Berücksichtigung der
negativen Momente, wenn das Biegungsmoment in der Mitte zu ⅘ des Feldmomentes bei freier
Auflagerung angenommen wurde. Daher konnten bisher unerfahrene Leute an den
Auflagern gerade ganz verkehrt konstruieren. Um wirtschaftlich bauen zu können,
empfiehlt sich bei größeren Konstruktionen stets die Anwendung der
Maximalmomentenformeln, da nach der Faustformel nur die Endfelder angemessen stark,
dagegen die Mittelfelder zu stark werden.
2. Bei Plattenbalken darf die Breite des plattenförmigen Teiles von der Balkenmitte
ab nach jeder Seite mit nicht mehr als einem Sechstel der Balkenlänge in Rechnung
gesetzt werden.
Diese Bestimmung ist etwas genauer gefaßt als in den alten Vorschriften, damit bei
Plattenbalken, die nur einseitig eine Platte haben (Endbalken), nicht der dritte
Teil der Balkenlänge als Plattenbreite in Rechnung gesetzt werden kann.
3. Ringsum aufliegende, mit sich kreuzenden Eiseneinlagen versehene Platten können
bei gleichmäßig verteilter Belastung, wenn ihre größere Länge a weniger als das 1 ½ fache ihrer Breitet beträgt, nach
der Formel:
M=p\cdot \frac{l^2}{12}
berechnet werden. Diese Bestimmung ist neu aufgenommen und
erleichtert die Anwendung derartiger Konstruktionen.
4. Die rechnungsmäßig sich ergebende Dicke der Platte und der plattenförmigen Teile
der Plattenbalken ist überall auf mindestens 8 cm zu bringen.
Bei dünnen Platten ist eine ungenaue Einlage der Eisen verhältnismäßig gefährlicher
als bei einer dickeren Platte. Aus Gründen der Sicherheit ist daher diese Vorschrift
erwünscht. Freilich läßt sie sich nicht immer durchführen, da z.B. bei
Dachkonstruktionen, welche kaum eine Menschenbelastung erhalten, eine geringere
Plattenstärke als 8 cm wohl ausführbar ist.
5. Die Spannungen im Querschnitt der auf Biegung beanspruchten Körper sind unter der
Annahme zu berechnen, daß sich die Ausdehnungen wie die Abstände von der Nullinie
verhalten, und daß die Eiseneinlagen sämtliche Zugkräfte aufzunehmen vermögen.
Bei Bauteilen, die der Witterung, der Nässe, den Rauchgasen und ähnlichen schädlichen
Einflüssen ausgesetzt sind, ist außerdem nachzuweisen, daß das Auftreten von Rissen
im Beton durch die vom Beton zu leistenden Zugspannungen vermieden wird.
Die Bestimmung über die Berücksichtigung der Betonzugspannungen ist neu und bei der
angegebenen Beschränkung angebracht, da im übrigen bei richtiger Konstruktion der
Auflager das Auftreten von Zugrissen in der Mitte oder in der Nähe derselben
bedeutungslos ist. Die Bestimmung ist in dem Erlasse der Eisenbahndirektion Berlin für die Berechnung der
Eisenbeton-Ingenieurbauten ebenfalls aufgenommen. Für Hochbauten kommt sie überhaupt
sehr selten in Frage.
6. Die Eiseneinlagen sind möglichst so zu gestalten, daß die Verschiebung gegen den
Beton schon durch ihre Form verhindert wird. Die Haftspannung ist stets
nachzuweisen.
In den alten Bestimmungen war vorgeschrieben, die Haftspannungen rechnerisch
nachzuweisen, soweit eine Verschiebung der Eiseneinlagen nicht durch ihre Form
verhindert war. Die neue Bestimmung enthält eine sehr wesentliche Erschwerung. Da
nur eine Haftspannung von 4,5 kg/qcm zugelassen wird, so tritt bei fast allen
Plattenbalkenkonstruktionen die Schwierigkeit auf, mit den gerade durchgehenden,
nicht aufgebogenen Eisen dieser Forderung gerecht zu werden. Wenn man durch
besondere Formung der Eisen die Verschiebung im Beton verhindern kann, so darf auch
eine Konstruktion nicht beanstandet werden, bei welcher die Haftspannung größer ist
als 4,5 kg/qcm, da ja im Falle der Zerstörung außer der Haftfähigkeit noch der
mechanische Widerstand der Verankerung, welche durch Umbiegen oder Ausspreizen der
Enden, Aufnieten von Winkeln und dergl. entsteht, überwunden werden muß. Es muß
daher gestattet sein, in irgend einer Weise diese Konstruktionen rechnerisch
auszunutzen, weil sonst ihre statische vorteilhafte Anordnung wirtschaftlich
ungünstig wird. Es sind weitere Parallelversuche mit gleichen Rundeisen, von denen
die eine Hälfte auf irgend eine Weise besonders verankert ist, anzustellen, um die
Erhöhung der Bruchlast festzustellen, und hieraus die rechnungsmäßige Ausnutzung der
Verankerung zu ermitteln.
7. Zulässige Spannungen: Bei den auf Biegung
beanspruchten Bauteilen soll die Druckspannung des Betons den sechsten Teil seiner
Druckfestigkeit, die Zug- und Druckfestigkeit des Eisens den Betrag von 1000 kg/qcm
nicht überschreiten.
Bisher war ⅕ der Druckfestigkeit als Druckspannung des Betons und 1200 kg/qcm als
Zugspannung des Eisens zugelassen.
Mit Rücksicht auf die schlecht kontrollierbaren Anfangsspannungen, die sog.
remanenten Spannungen infolge bleibender Formänderungen und die häufig auftretenden
Beanspruchungen des Betons nach zwei Richtungen scheint die Beanspruchung
herabgesetzt worden zu sein. Für die Praxis bedeutet die neue Vorschrift eine nicht
unwesentliche Verteuerung, da sowohl die Betonmischungen besser werden müssen, als
auch der Eisenquerschnitt größer wird.
Wird die Zugspannung des Betons in Anspruch genommen, so ist als Zugspannung ⅔ der
Zugfestigkeit, oder im Falle ihrer Unkenntnis 1/10 der Druckfestigkeit zugelassen.
Hiernach sind bei einer Druckfestigkeit von 250 kg/qcm nach 28 Tagen, die bei sehr
guter Mischung und Arbeit zu erreichen ist, 25 kg/qcm Zugspannung zugelassen. Die
tatsächlichen Zugspannungen sind geringer, als die nach der Annäherungsrechnung
ermittelten Zahlenwerte. Bei Platten hat die Berücksichtigung der Zugspannungen nur
geringe Bedeutung, dagegen werden die meisten Plattenbalken infolge der hohen Lage
der Nulllinie nicht genügen und erhalten, wenn sie die erforderliche Sicherheit
gegen Risse erhalten sollen, einen sehr breiten Steg. Glücklicherweise wird bei
Hochbauten diese Bedingung selten zu erfüllen sein.
8. Rechnungsverfahren und Zahlenbeispiele: Zu den alten
Formeln sind diejenigen für Platten mit doppelter Einlage und für Berücksichtigung
der Betonzugspannungen hinzugekommen.
In dankenswerter Weise sind auch direkte Dimensionierungsformeln für die einfache
Platte aufgenommen. Als höchste Druckspannung ist hierbei σb = 45 kg/qcm angenommen. Der
Eisenquerschnitt wäre besser noch als Funktion der statischen Höhe angegeben. Es ist
zu bedauern, daß in den Formeln immer noch der für die statische Berechnung
gleichgültige Wert a, d. i. der Abstand der
Eiseneinlage von der Zugkante mitgeschleppt wird. Die Zahlenbeispiele sind sehr
eingehend vorgeführt, se daß für den Gebrauch in der Praxis für jedes
Konstruktionsteil Vorbilder vorhanden ist.
Da das Ministerium für einen einfachen Fall selber Dimensionierungsformeln angibt, so
ist zu erwarten, daß es wie bisher auch solche für schwierigere Konstruktionen, wie
Plattenbalken und Balken mit doppelten Eiseneinlagen zuläßt.
Für die Entwicklung des Eisenbetonbaues überhaupt ist es ein gutes Zeugnis, daß der
Minister schon nach drei Jahren sich veranlaßt sieht, die Vorschriften zu erneuern.
Es ist zu erwarten, daß nunmehr das Zutrauen zu den neuen Konstruktionen noch weiter
steigen wird und Bauunfälle immer mehr vermieden werden.
Dr.-Ing. P. Weiske.